DEUTSCHER WETTBEWERB DOKUMENTARFILM
29. Oktober bis 4. November 2012
Lesen sie hier Besprechungen der Filme des Deutschen Wettbewerbs des Film-Festivals DOK Leipzig von Marie Falke, Mona Leidig, Laura Morcillo, Florian Geierstanger, Christian Haardt, Philippe Mainz, Heng Tang und Phil Zumbruch.
Anmerkungen, Kritiken oder Ergänzungen bitte an film@hfg-karlsruhe.de
Nach Wriezen - Ein Film über das Leben nach der Haft
Randland
Vergiss mein nicht
Camp 14 - Total Control Zone
MansFeld
Eine Art Liebe
Breathing Earth - Susumu Shingu’s Dream
Heino Jaeger - Look Before You Kuck
Nach Wriezen - Ein Film über das Leben nach der Haft
Regie: Daniel Abma, Deutschland 2012, 88 Minuten
Imo kann einer Fliege was zu Leide tun. Im Knast sitzt er seit vier Jahren und sieben Monaten. Dort klingelt regelmäßig der Testalarm, die Party der Woche, wie Jano das nennt. Marcel telefoniert mit seiner Freundin, die draußen Monate auf seine Entlassung wartet.
Leichte Pinselstriche reichen als Auftakt, die drei Figuren sind uns, den Zuschauern schnell vertraut. Wir wissen noch nicht, was der Regisseur Daniel Abma auch nicht wusste, dass wir sie drei Jahre ihres Lebens eng begleiten werden.
Wir sind in Wriezen, Brandenburg. Das bedeutet für Imo, Jano und Marcel Gefängnis, Jungendvollzuganstalt, aber auch ein neuer Anfang, das ersehnte Danach. Die Beschreibung dieser Zeit Nach Wriezen wird der Film sein.
Wohnung, Arbeit, Freunde, Familie. Welche Zutaten braucht es, ein normales Leben zu führen?
Marcel hat es vermeintlich leichter, eine Freundin, auch eine Wohnung gibt es schon. Sie basteln Collagen, feiern ihre Liebe, seine Tattoos und ihre rosa Herzchen teilen ein Dach.
Imo sitzt beim Amt und wird gefragt: Familie?. Eine wortlose Geste, wir sehen sein Gesicht. Verstehe, sagt die Angestellte. Seine Reihenfolge ist eine andere. Er sucht einen Job und eine Wohnung, findet schließlich ein Zuhause: Der Schrott-Reifenhändler Uwe gibt ihm Arbeit - gegenseitige Anerkennung, Motivation, Streben nach Zukunft. Imo schmückt mit Freude seine neue Wohnung: der Kopf der Duschebrause wird blau beim kalten, rot beim heißen Wasser. Home sweet home.
Die Resozialisierung ist kein Märchen mit Guten und Bösen. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier: Imo konsumiert weiterhin Drogen, Jano, der Ghetto-Prominent, erliegt der Versuchung des schnellen Geldes.
Einige Szenen stellen die Toleranz des Zuschauers auf die Probe: im Wohnzimmer liegt Janos Freundin mit ihrer Tochter, laute Rap-Musik ist zu hören, der Vater dieser Kompanie, Jano, packt weißes Pulver in eine Tüte. Pure Familienidylle.
Der Alltag dieser Menschen wird keinesfalls geschminkt und noch weniger beurteilt, sondern respektvoll und geduldig begleitet. Der Film ist weit weg vom Boulevardzeitungs-Aas.
(Laura Morcillo)
Eine kräftige Hand lauert regungslos, daneben krabbelt eine Fliege. Ein Schlag und ein Triumphschrei: Ich bin der Fliegen-Mörder von Wriezen. So stellt der Film einen seiner drei Protagonisten vor. Er ist sypmpatisch, lacht, ein intensives, bulliges Gesicht, sehr viel Kraft. Wriezen ist ein Gefängnis, Jano ist in Haft, ich weiß nicht, wofür er verurteilt wurde, aber deswegen bleibt mir das Lachen im Hals stecken. Die Musik verstärkt mit hohen, ziehenden Tönen das Gefühl der Unsicherheit, der Bedrohung.
Nach dem Titelvorspann erzählt der Film in neunzig Minuten die ersten drei Jahre nach der Haftentlassung von Jano, Imo und Marcel. Vor dem Gefängnis waren sie Jugendliche, jetzt sind die Strafen verbüßt, aber wie geht es jetzt weiter für die jungen Männer? Marcel schaut bedrohlich aus, mit dem Totenkopftatoo am Hals. Als Imo in eine unbedeutende Auseinandersetzung verwickelt wird deutet sich eine mögliche Dramaturgie an: die Situationen eskalieren immer weiter, am Ende des Films sitzen alle drei wieder im Gefängnis. Aber der Film erzählt etwas anderes, er beschreibt konkret, wie das Leben der drei weiter geht. Marcels Freundin hat alles für seine Zeit in
Freiheit vorbereitet, alle Formulare ausgedruckt und sich die Behördengänge überlegt. In einem sehr schönen Bild fahren Imo und seine Freundin im Kettenkarussell. Jano arbeitet bei einer Autoreifenfirma auf dem Land, der Firmenhof mit vielen Tieren wird zu einem richtigen Zuhause. Er zeigt dem Filmteam stolz die kleinen Details, die er in seine erste eigene Wohnung eingebaut hat, wie ein leuchtender Wasserhahn, blau bei kaltem und rot bei warmen Wasser. Die Zeit vergeht schnell, bald ist ein Baby auf dem Hof, auch Imo und Marcel werden Väter. Rückschläge bleiben nicht aus, Jano und seine Freundin müssen ihr Kind zur Adoption freigeben, Marcel findet lange keine Arbeit, Imo gerät immer tiefer in die Dealerszene, seine Wohnung wird zerstört, er kommt wieder ins Gefängnis. Aber das Leben geht weiter, nach Wriezen. Jano lernt autofahren, im letzten Bild dreht er die ersten Runden mit dem eigenen Auto. Die drei Haftentlassenen schauen in die Zukunft, und mit ihnen der Film.
(Florian Geierstanger)
Randland
Regie: Leopold Grün, Dirk Uhlig, Deutschland 2012, 93 Minuten
Ein kleines Straßendorf in der offenen Landschaft von Ost-Deutschland, durch die politischen Veraenderungen der letzten zehn Jahre gepraegt und längst vergessen vom Rest der Gesellschaft.
Im dem Strassendorf gibt es viele Sozialprobleme. Arbeitslos, Ausbildung, Mechanisierung, Familiäre Konflikte.
Ich denke darüber nach, wie ihr Leben und Denken auf nächste Generation wirken wird?
In China gibt es diese Sozialprobleme auch. Aber es ist sehr schwerig, wenn man dort das Thema dieses Dokumentarfilms drehen moechte.
(Heng Tang)
Randland ist halb dicht bewölkter Himmel, halb Lebensfreude und halb Schattendasein.
Und was davon übrig bleibt und selbst kein Ganzes mehr bilden kann sind die Menschen, die Einblicke, die Geschichten, aus denen Wischershausen, ein Kleinstdorf irgendwo nördlich von Berlin, zusammengesetzt ist.
Der große Rahmen für den Film und alltägliche Konflikt für die Menschen dort ist die ständige Arbeits- und Aussichtslosigkeit, die seit dem Mauerfall über der Gegend liegt. Aber statt auf schmerzenden Stellen herumzudrücken, spielt Randland mit Erwartungen und dekonstruiert Trostlosigkeit und puren Trübsinn durch geschickte Komposition von Bildern und Aufmischung von Szenen: Die Kamera springt von Impressionen zu persönlichen Gesprächen zu alltäglichen Situationen und zurück zu Impressionen. In Randland toben Pferde durch den Schnee und Kinder über Mauern aus Stroh. In Randland werden Süchte zugegeben und Verluste bedauert. In Randland schieben vier kräftige Männer ein fast noch kräftigeres Schwein erst durch den Schnee und dann ins Jenseits. Randland ist Kartoffelbrei - neu definiert… Das erzeugt einen sehr angenehmen, auch kurzweiligen Rhythmus.
Die einzelnen Charaktere haben meistens nicht viel zu sagen, aber geben genug von sich Preis, um einen Eindruck zu schaffen. Es geht um Menschen, die einen Menschen verloren haben, die ihre Liebe zu den Tieren weiter erhalten, die einen Menschen liebgewonnen haben, die ambitionierte Künstler sind, aber sonst eher durch zynischen Lebensmut auffallen, die sich nach alten Zeiten sehnen, die über Krankheiten klagen und gleichzeitig hinwegsehen, die das Dorf verlassen haben, die wieder zurückkehren, die ihre Haarfarbe mehrfach wechseln, die vor allem die Gemeinschaft suchen.
In Randland gibt es eine traditionelle Dorfgemeinschaft.
Randland ist irgendwie ein großes Zusammenspiel.
Doch was mich unerwartet etwas davon abgelenkt hat, war der Soundtrack des Films, der ohne Ankündigung direkt in elektronisch abstrakten Sounds auftritt und versucht, mich in finstere Tiefen zu ziehen, die so mit den Szenen auf der Leinwand vorerst keine Synergien bilden können.
Doch was sich am Anfang wie ein reines Gefühlsdiktat anfühlt gewinnt gegen Ende des Films durch akustischere Klänge an Wärme und funktioniert dann auch mit dem, was ich sehe.
Und im Großen funktioniert in diesem Film sowieso alles.
Randland beginnt mit einem Bier am Morgen und endet mit einem Gelage zu Ehren des Sommers.
Irgendwie tut es gut, eine Weile durch Randland zu streifen.
(Philippe Mainz)
Vergiss mein nicht
Regie: David Sieveking, Deutschland 2012, 88 Minuten
Alzheimer. Die Identität eines Menschen wird zur Tabula Rasa. Auf diesem weiß gewordenen Blatt versucht David Sieveking die Geschichte Gretels, seiner erkrankten Mutter, in Form eines Filmes neu zu schreiben.
Gedächtnis versus Identität. Man denkt an Rachel, Blade Runners Replikantin, das Mädchen mit künstlich eingepflanzten Erinnerungen, die ihr das Menschliche vergeben.
Fotografien aus familiären Alben und Erzählungen seines Vaters helfen dem Regisseur, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren. Hübsch und selbstbewusst war sie als junge Frau. Auch Informationen aus den Akten ihrer Überwachung seitens der Schweizer Regierung sind nützlich. Sie war Linksaktivistin, unter anderem in der Frauenbewegung tätig, engagierte sich außerdem für Unterdrückte aus der Dritten Welt und Flüchtlinge aus Chile. Mutter der Revolution wurde sie genannt, da sie immer die Kinder mit auf die Demonstrationen nahm. Paradoxerweise erfährt der Regisseur dank öffentlicher Behörden die intimen Lebensgeschichten seiner Mutter, die sie selbst ihm nie mehr wird erzählen können, möglicherweise auch nie erzählt hätte.
Der Film gibt sich aber mit dem Mosaik alter Zeiten nicht zufrieden. Gretel lebt. Eine andere, eine neue Art der Kommunikation muss erfunden werden und Dialoge jenseits jeglicher konventioneller Logik ergeben sich. Wo gehst du hin, Gretel? Keine Ahnung, sagt sie verwirrt. David spielt Gitarre und singt für sie, er begleitet die Melodie mit rhythmisch klackenden Mundgeräuschen. Die Mutter macht mit und sieht glücklich aus, manche Freude lässt sich trotz allem noch teilen.
Sie leidet an Übergewicht und will kaum aufstehen. David versucht alles Mögliche, dass sie sich bewegt. Butter, Gretel, lecker!, ruft er sie lockend. Die ess’ ich jetzt ganz allein. Sie verlässt endlich das Bett und schmiert sich Butter aufs Brot, anschließend auf eine Aprikose. Bald wird er ehrgeiziger und bringt sie ins Schwimmbad, in dem sie früher regelmäßig geschwommen ist. Gretels Gesicht zeichnet Angst und sie weigert sich, das Wasser zu berühren. Sag mal, können wir irgendwo sitzen, wo wir nicht sterben?, sagt sie, und sie meint es sehr ernst.
Sämtliche Aufmerksamkeiten, die sie genießt, erschöpfen jeglichen Begleiter. David kann sich nicht erklären, wie sein Vater das bisher geschafft hat. Ein einziges Mal erlebt man einen Augenblick der Reziprozität in diesen einseitigen Kranke-Pflegende-Verhältnissen. David liegt im Bett, seufzend. Und, wie geht es dir?, fragt sie ihn.
Malte, Davids Vater, findet alte Tagebücher von ihr und entscheidet sich, sie zu lesen. Die Frage nach der Legitimität, es ohne ihre Zustimmung zu tun, bleibt in die Luft, auch die, ob es im Film zu zeigen ist. Von ihren Affären wusste er schon, wie sie von den seinen. Sie führten eine freie Ehe. Die Trennung kam selten in Frage und nie wirklich zustande. Man kann anderen Leuten begegnen, aber wir bleiben zusammen. Es ist gut für die Familie, war Gretels Argument. Getrennte Schlafzimmer und Unabhängigkeit waren ihnen wichtig. Ob sie die aktuelle Abhängigkeit von ihrem Mann verkraften könnte, wird man nicht mehr erfahren können. Der Vater fragt sich nach dem Lesen der Tagebücher, ob sie von ihm genug Liebe bekommt. Wie bei Hanekes letzten Film lernen wir eine andere Form der Liebesgeschichte kennen, eine schönungslose, in Zeiten des Altwerdens, der Krankheit und des Übergangs.
Ein Film über den Winter einer wiederaufgeblühten Liebe und gleichzeitig die Liebeserklärung eines Sohnes an seine Mutter, die das Vergessen vergessen hat.
(Laura Morcillo)
Gretel ist an Alzheimer erkrankt. Sie beginnt Dinge zu vergessen und kann die Menschen um sie herum nicht mehr erkennen. Regisseur David Sieveking portraitiert seine Mutter und deren Krankheitsverlauf in diesem sehr intimen Dokumentarfilm und macht sich selbst zum Protagonisten seines Films. Aufgrund dieser Art zu dokumentieren kommt er sehr nah an alle Geschehnisse heran. Er erzählt direkt, aus seinem Leben.
Seine Mutter befindet sich den Film über hauptsächlich in einem Stadium der Krankheit, in dem es ihr noch möglich ist, mit anderen zu kommunizieren. Sie kann sich noch kurz auf Situationen einlassen und äußert auch immer ihre Meinungen und Gefühle in Bezug auf die verschiedenen Situationen. Das führt sowohl zu komischen, als auch zu traurigen Momenten. Als sie daran scheitert in ein Schwimmbecken zu gehen, weil sie es sich nicht zutraut, hineinzusteigen, dreht sie sich zur Kamera um und fragt mit ängstlichem Blick, warum es denn keinen Ort zum Hinsetzen gebe, an dem man nicht stirbt.
Der Film spricht außerdem die Vergangenheit von Gretel und ihrem Ehemann an. Es stellt sich heraus, dass das Bild, das der Regisseur in seiner Jugend von seinen Eltern hatte, als perfektes Paar das sich liebt, nicht wirklich der Wahrheit entsprach. Als 68er Generation führten sie eine offene Ehe, hatten beide auch verschiedene Partner, und gingen daran fast zu Grunde. Sie engagierten sich beide politisch und kämpften gegen die Konvention. Trotz allen Widrigkeiten blieben sie zusammen. Und nun muss sich Gretels Ehemann um sie kümmern und mitansehen, wie sie sich fast gar nicht mehr an die gemeinsame Vergangenheit erinnern kann.
Die Tatsache, mit der sich die Familie im Film beschäftigen muss, ist, dass Gretel noch physisch da ist, es einem aber nicht mehr möglich ist über bestimmte Dinge die ungeklärt blieben zu reden. So erkennt Sievekings Vater beim Lesen von Gretels Tagebüchern, dass er ihr oft Unrecht getan hat, und das in essenziellen Hauptbestandteilen ihrer Ehe. So etwas ist irreparabel und nicht mehr gut zu machen.
Der Film handelt von einem gelebten Leben und ist der Versuch, einen würdevollen Abschied zu bereiten.
(Phil Zumbruch)
Camp 14 - Total Control Zone
Regie: Marc Wiese, Deutschland 2012, 111 Minuten
Shin ist unschuldig. Er lebt in einem kleinen Apartment in Seoul, spartanisch eingerichtet, dunkel. In seinem Kopf, sagt er, ist er noch im Camp 14.
Camp 14 ist Essensmangel, Schwerstarbeit, absoluter Gehorsam, Folter, Tod. In ruhigen Gesprächen führt uns Shin Stück für Stück an seine nordkoreanische Realität heran. Arbeitslager, Todeslager. Er ist dort geboren, wurde von früh auf erzogen zu gehorchen, keine eigene Meinung zu haben und kein Mitgefühl zu empfinden. Das geht soweit, dass er seinen Bruder und seine Mutter, die einen Fluchtversuch wagen wollten, bei den Wächtern anschwärzte. Bei deren öffentlicher Exekution empfindet er keine Trauer, vielmehr empfindet er es als gerechte Strafe.
Das Leben in Südkorea, wo Shin nach seiner Flucht nun lebt, ist schwierig. Er ist Einzelgänger, wird von Alpträumen geplagt. Es gibt wenige, die sein Schicksal nachvollziehen können.
Hier entfernt sich der Film etwas von Shin. Ohne Einleitung sitzen uns zwei ehemalige nordkoreanische Gefängniswächter gegenüber, die in einem Camp, wie das von Shin, folterten, vergewaltigten, töteten. Sie konnten ebenfalls fliehen und leben mit ihrer Familie nun in Seoul. Über die Konsequenzen des Interviews sind sie sich bewusst. Nichts wird hier schön geredet. Ja, es gibt Straflager in Nordkorea, ja wir haben gefoltert, vergewaltigt und gemordet. Jeden Nordkoreaner kann es treffen. „Das Leben der Häftlinge in diesen Arbeitslagern ist nicht mehr Wert als eine Fliege“, sagen sie. Wir sehen die beiden ehemaligen Wächter in ihrem Alltag. Beim Abendessen mit ihren Familie, beim sorgfältigen Gießen der Pflanzen. Einer ist so freundlich, seine Zigarette aus Rücksicht vor dem Filmteam auszumachen. Reue?
Spätestens jetzt herrscht bei allen Zuschauern im Kinosaal Schaudern. Ich realisiere, dass immer noch viele tausende Menschen in Nordkorea in Straflagern „leben“. Ich werde bedrückt das Kino verlassen, aufgewühlt, auch in meiner Meinung bestätigt sein. Die gute Welt und das böse Nordkorea. Stellt der Film Fragen? Ist er kontrovers? Er verliert sein stärkstes Anliegen, das Leben eines Menschen zu portraitieren, der aus der Hölle kommt, und im scheinbaren Himmel kein Platz findet. Er wendet den Blick von Shin ab, hin zu zwei Tätern, die nicht im Camp 14 tätig waren, deren Erzählung einen eigenen Film füllen könnte. Auch bleibt bei mir Unverständnis, warum das an sich schon Schreckliche im Erzählten durch animierte Sequenzen bebildert werden muss. Es sei publikumswirksam, ist die Antwort des Regisseurs auf meine Frage.
Shin konnte aus Camp 14 fliehen. Nicht der Freiheitsdrang war ausschlaggebend, vielmehr Shins Wunsch einmal in seinem Leben, und sei es vor seiner Exekution, ein leckeres Hähnchen zu essen. Ein Mitgefangener muss für ihn am Elektrozaun des Lagers sterben, dann ist er draußen.
Shin braucht eine Pause, das Erzählen strengt ihn an. Seine Stimme ist matt geworden. Er arbeitet für NGOs, reist um die Welt, erzählt souverän seine Geschichte. Er trägt eine Schutzmaske, wirkt er doch während der Gespräche so zerbrechlich. Zuletzt sagt er: Wenn die Grenzen nach Nordkorea passierbar wäre, wenn er zurückkehren könnte in seine Heimat, würde er wieder in das Camp 14 gehen und dort leben. Dort muss er sich um nichts kümmern. Man wird unschuldig dort geboren. Dort hat er ein unschuldiges Herz.
(Christian Haardt)
Ein junger Mann sitzt barfuß auf der untersten Stufe einer schmalen Holztreppe. Die Treppe führt an der linken Wand eines kleinen Zimmers nach oben, eine schwache Deckenleuchte wirft nur wenig Licht auf die fast leere Wohnung. Von dort aus erzählt Shin Dong-Hyuk seine Geschichte. Satz für Satz entwickelt sich ein Bild, dass immer noch schlimmer wird. Wort für Wort wird das Bild konkreter und unfassbarer. Er wurde in einem Arbeitslager in Nordkorea geboren, ein riesiges Areal, 20 000 Häftlinge umzäunt von einem hohen, elektrisch geladenen Zaun. Er benützt Wörter, Koreanisch, Englisch untertitelt, die den unseren ähneln, Vater, Mutter, Sohn, aber für ihn haben sie eine andere Bedeutung. Beide Eltern waren Häftlinge. Seinem Vater wurde irgendwann eine Frau als Belohnung zugeteilt. Sie gebar zwei Kinder. In der Familie überwachten wir uns gegenseitig. Als der Bruder fliehen will, und die Mutter dem Ungehorsamen eine mühsam als Notration angesparte, kleine Schüssel Reis kocht, meldet er den Fluchtversuch dem Lehrer. Sechs Monate Einzelhaft folgen, am ersten Tag beginnen die Folterungen.
Gibt es Folter in den Arbeitslagern, will der Regisseur hinter der Kamera wissen. Sein zweiter Interviewpartner, ein Mann in Anzug und Krawatte antwortet: Folter ist ganz normal. Der dritte Interviewpartner, auch er in Anzug, auch er ein geflohener Lagerkommandant, bestätigt die Aussage. Ich hatte ein Fußpedal, mit dem ich die Folteropfer unter die Wasseroberfläche drückte. Nach diesem Interview werde ich nie mehr über meine Tätigkeit im Lager reden. Der Regisseur erkundigt sich bei Shin nach der Wasserfolter. Can I answer this later. Er zeigt seine deformierten Arme, erklärt wie sie als Folter nach hinten gezurrt wurden. Warum habe ich so viele Narben an den Beinen, dass ich im Sommer keine kurzen Hosen anziehen kann?
Im Gefängnis, nach monatelanger Einzelhaft und Folter, erfährt er zum ersten Mal in seinem jugendlichen Leben, dass sich jemand um ihn sorgt. Ein älterer Mitgefangener kümmert sich um seine Folterwunden. Das Wort Mitgefühl kannte er bis dahin nicht, nur: Kontrolle. Ein anderer Lagerinsasse erzählt ihm vom Leben außerhalb des Lagers, von Hühnchenfleisch, vom sich Sattessen mit Reis. Shin gelingt die Flucht.
Kurze Sequenzen aus Zeichentrick und 3D-Animation bebildern die Erzählung sporadisch. Zwischen den Interviewteilen gibt es auch kurze Szenen, in denen Shin seine Geschichte vor Publikum erzählt, zum Beispiel auf einer Menschenrechtskonferenz. Diese Vorträge hält er regelmäßig. Das Interview, das Marc Wiese geführt hat, hat noch einmal eine andere Intensität.
Am Ende des Films kommt noch etwas neues hinzu: Shin beobachtet die Menschen in Südkorea. Die Selbstmordrate ist dort viel höher als im Arbeitslager. Die Sorge nach dem Geld war für ihn als Kind unbekannt. Und dann noch: Wenn die Grenze geöffnet werden sollte, will Shin als erster zurück in seinen Geburtsort, in das Lager, um dort zu leben, Landwirtschaft zu betreiben, selbst wenn er ausschließich von Getreide leben muss.
(Florian Geierstanger)
MansFeld
Regie: Mario Schneider, Deutschland 2012, 98 Minuten
Ein Junge schlägt um sich. Seine Peitsche zerschneidet die Luft. Verdutzte Blicke der Angehörigen. Aggression, Wut, Ausweglosigkeit? Von Ferne hört man weitere Schläge knallen. Wir befinden uns in einem Dorf, das wie in einem Kessel zwischen schwarzen Kohlewänden eingeschlossen liegt. Tom, Paul und Sebastian gehen in die vierte Klasse. Wir werden sie fast ein Jahr durch ihren Alltag begleiten, zum Beispiel, wenn in Pauls Familie alle helfen das Weihnachtsschwein zu schlachten. Beim Rasieren der Borsten lernen die Jungen von den Alten. Danach gibt es in großer Runde köstliche Mettbrötchen mit Zwiebeln. Paul ist sich danach sicher, dass er Metzger werden will. Tom versucht sich jeden morgen im Lesen von Neuigkeiten aus der Zeitung, die voll von Fremdwörtern sind. Es sind Nachrichten aus fernen Ländern, ganz weit entfernt von Mansfeld. ?
Es gibt auch Reibungen. Der Vater von Paul hat einen Unfall gehabt. Er wird vielleicht nicht mehr arbeiten können. Und Paul bringt nur schlechte Noten nach Hause. Die Mutter muss ihm Nachhilfe geben. Sebastian und sein jüngerer Bruder Kevin wollen beide noch lange nicht einschlafen. Der eine ärgert den anderen bis der Papa ins Zimmer kommt. Die Kamera ist so nah dabei, dass man schon fast die „Super-Nanny“ hinter jedem Schnitt vermutet.
Hämmernde Streicher, zerbrochene Rhythmen. In der Mansfelder Region gibt es einen alten Brauch, wir sehen Archivmaterial: die Jugend vertreibt am Pfingstfest den griesgrämigen Winter mit Hilfe der Peitschen. Sebastian, Tom und Paul dürfen sich dieses Jahr zum ersten Mal so richtig behaupten. Im Trachtenverein lernen sie das Peitschenschlagen. Das Pfingstfest wird zur Erwartungshaltung: werden die Jungen mit ihren Peitschen den Winter, gemimt von den Vätern, vertreiben? Werden sie die Alltagsprobleme hinter sich lassen und durch den Ritus erwachsen? Der große Tag beginnt mit sehr frühem Aufstehen und dem Anziehen ganz besonderer Kleidungsstücke, die von den Müttern das Jahr über hergestellt wurden. Eine Musikkapelle spielt, es gibt Speis und Trank. Das Spektakel beginnt mit dem Auftritt des Winters: Die Männer des Dorfes wälzen sich im Schlamm und bespritzen die Zuschauer. Was sich im Winter angesammelt hat, wird hier freien Lauf gelassen. Dann treten die Jungen in ihren weißen Gewänden und mit ihren Peitschen auf und bringen die Luft zum Schwingen. Strawinskys durchkomponiertes Frühlingsopfer gibt der Veranstaltung den unangemessenen Touch an Initiationsritus. Geht es dem Film um das Frühlingsfest oder um Tom, Paul und Sebastian, die in diesem zu langen Höhepunkt nur ein kleiner Teil des Ganzen sind? Durch das Ritual sind sie nicht „erwachsener“ geworden. Paul hat immer noch Probleme mit den Wörtern „Bund“ und „bunt“, auch Sebastian übt immer noch mit seiner Mutter Mathe.
(Christian Haardt)
Mansfeld, ein 9000 Seelen Dorf in Sachsen Anhalt.?Ein Junge steht in einem Garageninnenhof und knallt gekonnt mit einer Peitsche auf den Betonboden. Der Widerhall der Hiebe prallt an der großen schwarzen Haldewand, die wie ein Schutzwall am Rande des Dorfes thront, ab und schallt durch das gesamte Dorf. ?Es ist Herbst. Sebastian, Tom und Paul sind drei der etwa 9000 Bewohnern.? Mario Schneider zeigt dem Zuschauer drei Familien, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der sensible Tom, der sehr gerne vorliest, lebt bei seiner Mutter und ihrer Lebensgefährtin. Sebastian lebt mit Eltern und Bruder in heiler Familienidylle. Paul, der kein Freund des Sports ist, lebt zusammen mit kleinem Bruder, fußkrankem Vater und stark übergewichtiger Mutter. Er begleitet sie in ihrem alltäglichen Leben, ist dabei, wenn Mutter und Sohn gemeinsam Hausaufgaben machen, die Familie gemeinsam isst, Tom beim Frühstück die Horoskope vorliest, Sebastian und sein Bruder sich unterm Esstisch prügeln oder Paul ängstlich mit einer sechs im Diktat von der Schule nach Hause kommt.?Eine Sache aber verbindet die drei Jungen: sie alle bereiten sich auf das Frühlingsfest vor, an welchem, nach alter Tradition, der Winter durch die kunstvollen Peitschenhiebe der weißgekleideten, blumenverzierte Hüte tragende Jungen, verjagt werden soll. ?Mit Stravinskys ‚Le Sacre du Printemps’ musikalisch unterlegt, zeigt Schneider, beinahe als dramaturgischen Höhepunkt des Films, ebendieses Dorfspektakel. Die Männer werfen sich in Schlammgruben und trinken den Matsch aus Stiefeln, immer gejagt von den weißgekleideten Jünglingen, die sie mit Peitschenhieben antreiben und jagen. Parallel sieht man alte schwarz-weiß Aufnahmen des traditionsreichen Ereignisses und der Zuschauer beginnt nun wahrscheinlich zu verstehen, um was es sich bei diesem Wahnsinn handelt.?Als dritter und letzter Teil hat Mario Schneider seine Trilogie über jene Region beendet und sich diesmal auf die junge, zukünftige Generation konzentriert. Der gesamte Film zeichnet sich durch eine sehr persönliche Atmosphäre aus. Man hat den Eindruck, die Familien bemerkten die Kamera gar nicht mehr, so vertraut scheint der Umgang mit den Protagonisten. Umso auffälliger erscheint der Wechsel zur reinen Beobachterrolle, die Schneider dann beim Frühlingsfest einnimmt. Plötzlich sind die drei Jungen nur noch abgebildet und fungieren in ihrer Rolle, die Sequenzen unterlegt mit Stravinskys dramatischer Musik, was dem Ganzen einen sehr fiktiven Charakter gibt.?Trotzdem bleibt es aber ein sehr persönlicher Film, der dem Zuschauer das Leben an diesem Ort mit Sicherheit ein Stück näher gebracht hat.
(Marie Falke)
Eine Art Liebe
Regie: Dirk Schäfer, Deutschland/Türkei 2012, 70 Minuten
Nevzat ist ein kurdischer Bauer, der in einem Dorf in einer türkischen Provinz lebt. Mit 15 Jahren wurde er, da sein Onkel starb, mit seiner Tante zwangsverheiratet, auch um ein stabiles Verhältnis zwischen zwei kurdischen Clans aufrechtzuerhalten. Das Problem ist bloß, dass er nun mit 30 die Scheidung will und endlich aus seinem engstirnigen Dorf herauskommen möchte.
Der Hauptprotagonist Nevzat ist in diesem Film omnipräsent. Die Kamera folgt ihm auf Schritt und Tritt, ist stets bei ihm. Oft während er isst, raucht, liegt oder arbeitet. Nevzat hat kein Problem damit. Bereitwillig lässt er sich ablichten. Oft spricht Nevzat nicht viel. Und wenn er spricht, dann von Dingen wie der untergeordneten Rolle der Frau in den kurdischen Clans, die ihm missfällt, und anderen Zwängen der Gesellschaft, die er ankreidet. All dies sagt er mit wohlbedachten Sätzen, er inszeniert sie genauso wie sich selbst vor der Kamera. Sie sind in ruhigem Tonfall gesprochen und lassen den Zuschauer darüber nachdenken, wie viel sie eigentlich über Nevzat preisgeben. Der Film bewegt sich die ganze Zeit in diesem Halbdunkel, dass er seine Zuschauer ständig über die Motive, die Selbstinszenierung und das damit verbundene Kalkül Nevzats nachdenken lässt.
Im Laufe des Films gibt er mehr von sich Preis. Er erzählt von dem „Unfall seines Bruders“, bei dem dieser starb. Nachfragen weicht er aus und redet fortan nicht mehr darüber. Gegen Ende verdichtet sich das Bild Nevzats als eigentlich gebrochene Persönlichkeit, die alles tut um aus der bestehenden Situation herauszukommen. Er erzählt von einem versuchten Ehrenmord, den er beging. Drei Schüsse feuerte er damals auf einen Menschen ab. Das Opfer überlebte, er floh, stellte sich dann doch den Behörden und verbüßte eine kurze Haftstrafe.
Eine Art Liebe ist der Versuch einen Menschen zu portraitieren, der mit alten Verhältnissen brechen will, aber eine unglaubliche Vergangenheit zu bewältigen hat, die er teils gekonnt überspielt, die teils aber auch trotz seiner Art, sich zu geben, durchscheint.
Übrig bleibt die Geschichte einer Person, die unbedingt etwas zu erzählen hat, und dieses dann ganz sporadisch tut.
(Phil Zumbruch)
Nevzat ist 30 Jahre alt. Sein halbes Leben lang ist er schon mit der Witwe seines Onkels, Songül verheiratet. Zwangsheirat. Ein Phänomen, das meist nur aus der Sicht der Frauen beurteilt wird. Die aufgezwungene Verpflichtung, Verantwortung, die die Männer gegenüber ihren Familien dabei tragen, wird selten betrachtet.
Dirk Schäfer fand in seinem Protagonisten einen Menschen der schon lange auf den Moment wartete, genau davon zu erzählen, seine Geschichte zu erzählen. Schäfer zeigt das Leben, den Alltag im Dorf, die Arbeit der Frauen, aber vor allem zeigt er Nevzat, folgt ihm beständig, lässt ihn erzählen, gestalten. Die großen Entscheidungen in seinem Leben wurden bisher nur durch selbstauferlegte Gesetze der im Ort herrschenden Familienclans bestimmt. Um des lieben Friedens Willen zwischen den Clans entstanden Ehen wie seine. Aus Pflichtbewusstsein der Familie gegenüber wurde er mit 19 Jahren fast zum Mörder. Seine wachsende Unzufriedenheit mit den ihn umgebenden Umständen auf dem Lande lässt ihn immer wieder in die Stadt flüchten, nach Istanbul, um unter lebensbedrohlichen Umständen auf Baustellen zu arbeiten. Auch so etwas, das er eigentlich nicht mehr machen möchte, aber er sieht keine andere Wahl. Er sucht Auswege, möchte sich scheiden lassen, eigene Kinder haben. Aber da ist auch die Verantwortung, die er trägt, nicht nur für Songül und ihre Tochter Hülya, sondern auch für die Frau und Tochter seines verstorbenen Bruders. Dieser Respekt der Familie gegenüber, als eine Art Liebe. Eine Art Liebe, der auch er sich nur schwer entziehen kann. Trotz seiner kritischen Haltung gegenüber den alten überkommenen Regelwerken seiner Kultur, merkt man in vielen Momenten, dass er nicht alles ablegen kann. Vieles bleibt in der Schwebe, bleibt unausgesprochen. So nah die Kamera Nevzat körperlich auch kommt, so präsent er als Person den ganzen Film über ist, bleibt auf der Gefühlsebene eine gewisse Distanz. Dies ist aber nicht den ausgewählten Bildern oder der Montage dieser geschuldet, sondern verdeutlich vielmehr ein weiteres Mal, wie selbst die eigensten Gefühle des Protagonisten einem Traditionsbewusstsein unterworfen sind.
(Mona Leidig)
Breathing Earth - Susumu Shingu’s Dream
Regie: Thomas Riedelsheimer, Deutschland/Vereinigtes Königreich 2012, 93 Minuten
Susumu Shingu ist ein Kanarienvogel. Kein wirklicher, eher ein Mann der sich dazu verpflichtet fühlt, wie einst die Kanarienvögel die Bergarbeiter, die Menschen vor sich verschlechternden Umweltbedigungen zu warnen. Auch tut er dies zum Glück nicht durch seinen eigenen Tod sondern mit seiner Kunst. Mit Windrädern, Wasserspielen und tanzenden Mobiles. Ein zeitgenössischer Alexander Calder, dem es nach Jahrzehnten der kinetischen Kunst nicht mehr primär darum geht das Statische in der Skulptur aufzuheben oder Immaterialität erfahrbar zumachen. Er geht weiter, er hat einen Traum, einen ziemlich konkreten: Breathing Earth. Die Vision eines idealen Ortes versorgt durch Windenergie, die sich aus seinen skulpturalen Windrädern speist. Ein Ort annähernd autark, mit Restaurant, Gärten, Laboren, Ateliers und einem Freilichttheater. Soweit die Idee. Thomas Riedelsheimer begleitet Susumu Shingu bei seinen Versuchen diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Finanzierung, Verwaltung, Weiterentwicklung mit Ingenieuren, Ortsbesichtigungen und Präsentation des Projekts in Matera, Schottland, Paris, Istanbul. Der Film zeigt die Organisationsschwierigkeiten und die jahrelange Arbeit, vorallem Überzeugungsarbeit die hinter einer so ambitionierten Vision einer besseren Welt steckt. Riedelsheimer durchsetzt die reine Reportage mit zahlreichen Beobachtungen Shingu‘s früherer Arbeiten in der freien Natur, im urbanen Raum oder im gängigen Ausstellungskontext in Museen und Galerien. Der Film behandelt so nicht nur ein konkretes Projekt sondern ist vielmehr Portrait eines Mannes, der seiner Faszination für den Wind in verschiedenster Form Ausdruck verleiht. Es ist auch ein Portrait über den Wind selbst. Denn gezeigt wird sowohl sein schöpferisches wie auch sein vernichtendes Potential in verschiedensten Facetten. Gewollt kontemplative Kameraeinstellungen von fliegenden Blüten werden mit Bilder zerstörter Installationen, die der Kraft eines Taifuns zum Opfer fielen, kontrastiert. Er zeigt aber auch die Allgegenwärtigkeit des Windes, die den Menschen in ihrem Alltagstrott gänzlich entfällt, es sei denn, man betrachtet die sanften Bewegungen von Shingus Skulpturen.
(Mona Leidig)
Heino Jaeger - Look Before You Kuck
Regie: Gerd Kroske, Deutschland 2012, 120 Minuten
Gerd Kroske macht sich mit seinem neuen Werk Heino Jaeger – Look before you kuck auf die Suche, auf die Suche nach Heino Jaeger.
Kroske trifft ehemals enge Freunde Jaegers, besucht sie zuhause, lässt sie erzählen. Zusammen mit ihnen lauscht er alten Tonbandaufnahmen, es werden Anekdoten erzählt und vertrautes Videomaterial mit eigens Aufgenommenem gezeigt. Es scheint so, als würde der Regisseur sich mit Voranschreiten der Dreharbeiten der Person Jaeger immer weiter annähern, ihn und sein Leben im Laufe des Films immer besser kennen lernen. Und folglich füllt sich der Film nach und nach mit weiteren Protagonisten, wie der Zimmernachbarin aus der Heilanstalt, in der Jaeger knappe zehn Jahre seines Lebens verweilte, oder der Stripperin vom Hamburger Kiez, die Jaeger einst in ihrem Zimmer nächtigen ließ, während sie arbeitete.
Der Zuschauer wird mit auf eine Reise durch sein Leben genommen: Ein Mann, der als Maler obszön anklingender Bilder polarisierte, satirische Komödie vor Publikum machte und im saarländischen Runfunk eine eigene Sendung hatte. Ein Künstler für die Künstler und nicht für die breite Masse, wie es ein Freund formuliert. Jemand der dem Alkohol verfällt und schlussendlich, in einer Heilanstalt lebend, keine Motivation mehr hat fürs Weiterleben.
Kroske lässt seinen Protagonisten Raum, erlebt zusammen mit ihnen erneut die alten Geschichten, seine Fragen erscheinen spontan und aufrichtig, was es dem Zuschauer leicht macht, teilzuhaben.
Am Abend der Filmvorführung fragte die Moderatorin, wer im Saal Heino Jaeger kenne. Es meldeten sich drei Leute. Doch auch wenn er der breiten Masse eher weniger bekannt war, so kann man sich als Zuschauer glücklich schätzen, einen Einblick gewonnen zu haben in das Leben dieser geheimnisvollen, so unnahbar erscheinenden Persönlichkeit.
(Marie Falke)
„Heino Jaeger – Look Before You Kuck“ umreißt schemenhaft ein Leben. Über Anekdoten und Erzählungen alter Freunde erschließt sich dem Zuschauer langsam das Bild eines Malers und Komikers, dem es scheinbar, auf materieller Ebene, egal war, wie er lebte. Seine Wohnung glich einer Müllhalde, hingegen nicht, welche Kunst er erschuf. Seine Malerei stellt mit eindeutigen Stilmittel ein ziemlich klares, aufgeräumtes Bild seiner eigenen Seelenzustände dar.
Der Film beginnt offen und leicht, erzählt von den Anfänge seiner Freundschaften, der Entdeckung seines kabarettistischen Talents inklusive Ausschnitten erster Tonbandaufnahmen, die Jaegers Eintrittskarte in die Welt der Komik waren: Tagelange Imitationen verschiedener, für die Nachkriegszeit typischer deutscher Durchschnittsbürger die ihre Sicht zum aktuellen Weltgeschehen äußern.
Jaeger war auf ewiger Suche nach Konfrontation, so imitierte er Hitler in den 60er Jahren, druckte Plakate zu seinen Ausstellungen in altem NS-Layout, kleidete sich zu gegebenen Anlässen in Soldatenuniform, war in Mitten der Hippierevolution Anti-68er und verkaufte seine Bilder zuweilen für eine Pulle Wodka.
Doch mit den Jahren, so kommt es einem vor, war Jaeger, auch durch Alkoholismus und Drogensucht bedingt, nicht mehr im Stande mit seiner Außenwelt wie früher zu kommunizieren. Seine Eskapaden und Exzesse führen schlussendlich zu mehreren Aufenthalten in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt. 1997 stirbt Jaeger in einer solchen.
Der Film gräbt in den Erinnerungen alter Kumpels und Bekannter, die ihre Sichtweisen zu Jaeger äußern. So versucht dieser Film gar nicht eine unumstößliche Analyse eines Menschen, den die breite Öffentlichkeit gar nicht kannte, zu erschaffen, sondern entwirft in vielen Gesprächen eine Person. So gibt er den Geschehnissen um Heino Jaegers Leben herum eine Bedeutung und lässt seine Zuschauer Jaegers alten Freunden, allesamt merkwürdige Persönlichkeiten, beim Geschichtenerzählen zuhören, die sich alle um ihn drehen.
Außer wenn Ausschnitte aus Radiosendungen gezeigt werden. So wird eine Hitlerimitation Jaegers mit Filmaufnahmen einer heutigen rechtsradikalen Demonstration unterlegt. Damit kommt es zu einem Realitätseinbruch in diesem eigentlich in einer engmaschig nacherzählten Welt stattfindendem Film, der in dieser Art nicht absehbar war und dessen Sinn sich einem nicht wirklich erschließt. Die für mich einzige kongeniale Entsprechung der Bilder die der Film zum gesamten künstlerischen Werk Jaegers erschafft, passiert als die Kamera einen Bundeswehrschießübungplatz aufsucht, auf dem er Inspiration suchte, und sich auf einmal wie von Geisterhand unheimlich viele, menschlichen Figuren nachgebaute Schießziele vor der Kamera auftun. Dann fühlt man kurz wie es sein könnte in Jaegers Haut zu stecken.
Doch es geht wie gesagt nicht nur um Jaeger, sondern auch um eben die, die um ihn umgaben, ihre Generation.
Nur selten kommt Jaeger selbst zu Wort. Er erzählt davon, dass er die Dinge, die er um sich sieht, ein Hotel als Beispiel, gerne als Ruinen malt.
(Phil Zumbruch)